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INTERVIEW 1999

Pianist, Lehrer und Kämpfer mit Visionen

Das Institut für Musik der Otto-von-Guericke-Universität feierte mit einer großen Konzertreihe das 20-jährige Jubiläum der musikalischen Hochschulausbildung in Magdeburg. Ohne den Magdeburger Pianisten und Klavierpädagogen Hermann Müller hätte es dieses Jubiläum wohl nicht gegeben.
Von Jürgen Hengstmann.

Magdeburg.
Doreen Pichler ist Musikpädagogik-Studentin an der Magdeburger Uni und seit vier Jahren die Schülerin von Hermann Müller. Er arbeitet dort als Klavierpädagoge und Korrepetitor. Vor einem Jahr hätte Doreen Pichler nicht geglaubt, das zweite Klavierkonzert von Beethoven spielen zu können. Sie ist nicht irgend eine Studentin. Doreen Pichler ist, wie das Konzert-Publikum nicht nur in Magdeburg weiß, eine junge Virtuosin mit vielversprechenden Fähigkeiten. "Ein Jahr später", so erinnert sich Doreen Pichler in unserem Gespräch, "konnte ich den Beethoven spielen". Sie spricht dann nicht nur vom so notwendigen Zuwachs an technischer Versiertheit, sondern vor allem auch von der größeren menschlichen Reife, die ein Künstler für dieses einzigartige Beethovensche Werk unbedingt braucht. Zu verdanken habe sie das ihrem Lehrer, Hermann Müller.
"Es ist erstaunlich, was er aus einem herausholen kann", sagt sie. "Schon oft bin ich an technischen Grenzen angelangt, an einem Punkt angekommen, wo ich mir bei aller Willenskraft sagte: das schafft du nie", fügt sie hinzu. Und sie nennt sofort ein Beispiel: "Das zweite Klavierkonzert von Camille Saint-Saens ist technisch wahnsinnig schwierig. Für die schweren Oktavpassagen, für die Läufe braucht man' allein schon so viel physische Kraft wie ein 30-jährigerMann! Das wird nichts, das kann ich nicht, nie!". Hermann Müller hat sie dann mit viel Geduld und Erfahrung vom Gegenteil überzeugt ..

1990 gab es eine einmalige Chance

Hermann Müller weckt in seinen Schülern, was ein Künstler und ein Lehrer am meisten brauchen: Vertrauen in die eigenen Fähigkeit. Er überzeugt sie, dass sie noch viel mehr können als sie selbst glauben, dass sie an einem Anfang stehen, dass sie ein große Chance haben. Das bewirkt Hermann Müller, ohne etwas aufzudrücken, allein durch seine souveräne Ruhe, seine vorbildhafte Ausstrahlung als ein renommierter Konzertpianist, durch seine überzeugende menschliche Integrität.
Solche Eigenschaften sind es wohl auch, die ihm halfen, eine selbstgestellte Aufgabe zu erfüllen: Den Erhalt und den Ausbau einer musikalischen Hochschulausbildung in Magdeburg.
In der Wende wurde der schon damals erfolgreiche Pianist und Klavierdozent von seinen Mitarbeitern zum Leiter der Magdeburger Außenstelle der Leipziger Musikhochschule gewählt. Es gab 1990 zum ersten Mal eine riesige Chance: In Magdeburg eine eigenständige Musikhochschule zu gründen. Hermann Müller und die andere Visionäre formulierten und verfolgten dieses Ziel mit Leidenschaft, Hartnäckigkeit und Renitenz. Er war Initiator der Gesellschaft für die Gründung einer Musikhochschule in Magdeburg.
Natürlich begegnete Hermann Müller mit solchen kühnen Plänen auch häufig mitleidigem Lächeln, zuweilen auch zynischem und hämischem Grinsen. In dieser Provinz eine Musikhochschule? Wer braucht die· wohl? Und vor allem: Wer soll die bezahlen?
Mit dem Vergehen der Wende-Euphorie wurde für manchen anfänglichen Verfechter diese Vision von einer Musikhochschule immer utopischer. Bald schon tauchten auch ganz neue, scheinbar einleuchtende, in Wirklichkeit aber kümmerliche Pläne auf: Soll man doch diese akademische Ausbildung in dem traditionsreichen musikalischen Zentrum Halle konzentrieren.
Für solche Pläne hatten nun Hermann Müller und seine Mitstreiter nur ein mitleidiges, auch zorniges Lächeln übrig: 1962 hatte der reale Sozialismus die renommierte Magdeburger Fachschule für angewandte Kunst geschlossen. Sollte nun, mit der· Musikhochschule, die letzte künstlerische Hochschuleinrichtung aus Magdeburg verschwinden? Aus der Landeshauptstadt? Magdeburg als Verwaltungsstadt mit marginaler kultureller Bedeutung?

Herrmann Müller mobilisiert die Abgeordneten des Landtages, den Oberbürgermeister, die Presse. Mit Erfolg: In diesen Tagen konnte die Volksstimme von den sehr gut besuchten und künstlerisch faszinierenden Konzerten der Magdeburger Musikhochschüler berichten. Anlass war das 20-jährige Jubiläum der akademische musikalischen Ausbildung, die heute in Deutschland als Institut für Musik der Magdeburger Guericke-Universität unter der Leitung von Prof. Tomi Mäkelä einen sehr guten Namen hat. An Schließung oder Aussiedelung nach Halle denkt heute hoffentlich niemand mehr. Im Gegenteil!
Das Institut wird durch neu eingerichtete Professuren, aber auch durch die alljährlichen Meisterkurse mit renommierten Lehrern und Solisten aus aller Welt für Studenten und Lehrer in ganz Deutschland von Jahr zu Jahr interessanter.
Hermann Müllers Unerschrockenheit im Dienste der Musikhochschul-Sache fand längst namhafte Anerkennung:
Die Magdeburgische Gesellschaft von 1990 zur Förderung der Künste, von Wissenschaft und Gewerbe verlieh ihm in diesem Jahr dafür die August-Wilhelm-Francke-Medaille. Sie ist benannt nach dem erfolgreichen Magdeburger Oberbürgermeister, der von 1817 bis 1848 seine Amtsgeschäft führte.

Dann findet man zu sich selbst

Bei seinen Kämpfen für die Musikhochschule hatte Hermann Müller immer viele Verbündete, die er durch sein Charisma, seine kommunikative Art gewinnt und mitreißt. Dennoch ist er im entscheidenden Moment in aller Öffentlichkeit sehr einsam:
Als Solist im Konzert. Dann ist nur seine Frau zuweilen seine Partnerin und stets seine erste Kritikerin. Sie sind Ehepaar und Kollegen.
Das Konzert: Er ist dann allein mit sich und dem höchsten Anspruch, dem eigenen und dem des Publikums. Chopin vor allem begeistert ihn. Diese virtuose, klanglich so differenzierte Musik fasziniert den Pianisten, sie ist emotional so ansprechend, dass der Funke beim Konzert schnell überspringt. Hermann Müller überzeugt bei seinen Konzerten durch technische Meisterschaft ebenso wie durch den interpretatorischen Ausdruck. Doreen Pichler spricht, danach gefragt, von Hermann Müllers begeisternder Art, Musik zu machen. Der Zuhörer erlebt bei diesem Pianisten nicht nur stilgerechtes Spiel, sondern auch das leidenschaftliche Empfinden des Interpreten für die großen humanistischen Botschaften der Musik.

"In den Konzerten von Hermann Müller spürt man die romantische Idee von der absoluten Musik", sagt seine erfolgreiche Schülerin nachdenklich im Gespräch mit dem Volksstimme- Reporter, "man wird entrückt in eine übernatürliche Welt.
Wenn man dieses Gefühl hat, dann findet man zu sich selbst.“

Magdeburger Volksstimme, 31. Dezember 1999




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